Am Schicksalsberg

Die Rückkehr zum Rysy

Vor mittlerweile gut 23 Jahren gab es die erste Begegnung zwischen dem Wanderpal und dem Rysy. Dem damaligen Gipfelsturm auf 2.499 Meter Höhe folgte eine etwas andere Erfahrung, als wir es dann vor gut vier Jahren noch einmal versucht haben. Höchste Zeit also eine weitere Annäherung zu wagen.

Ich habe nur noch rudimentäre Erinnerung an den ersten Aufstieg auf den Rysy. Es war damals – 1995 – unser erster Urlaub in der Hohen Tatra. Das Haus, in dem wir jetzt unseren Urlaub verbringen, war noch in der Renovierungsphase; wir waren damals in einem Hotel am Fuße der Tatra untergebracht. Wenn ich so drüber nachdenke, würden alleine die Anekdoten und unser Aufprall auf den damals noch in Auflösung befindlichen Kommunismus ganze Kapitel in diesem Blog füllen.

Darum soll es aber jetzt nicht gehen. Wir waren auch damals schon viel wandern, wurden meistens und nur ganz selten widerwillig von den Eltern mitgeschleppt. Eines Tages stand plötzlich ein Karko im Hotel. Seineszeichens ein überaus erfahrener Alpinist, Jugendfreund meiner Großcousine Helga und Kenner der Tatra. Und der wollte natürlich auch mit uns wandern. Erklärtes Ziel wurde der Rysy. Einer der bei Touristen beliebtesten Berge und – wie ich jetzt gelernt habe – der höchste Berg in der Tatra auf den ein markierter Wanderweg führt. Warum auch klein anfangen?

Ich weiß noch, dass wir damals am Abend vor der Wanderung mit Karko Proviant einkaufen waren und für mich unvorstellbare Mengen unterschiedlichster Dinge gekauft haben. Am nächsten Morgen ging es dann sehr früh los, der Weg zog sich ewig und am frühen Nachmittag waren wir immernoch nicht oben. Kurz vor dem Gipfel streikten dann Teile unserer kleinen Wandergruppe, das letzte Wegstück musste ich mit Karko und meinem Bruder Martin „allein“ angehen. Soll Leute geben, die ihre Entscheidung damals nicht weitergelaufen zu sein, heute noch bereuen. Ich finde ja beim Wandern gilt: Nur so weit und hoch wie man will, kann und sich sicher fühlt. Dann gibt es auch keinen Grund irgendwas zu bereuen.

Ich weiß auch noch, dass Martin und ich damals am Abend stolz wie bolle unsere in der Berghütte am Rysy erworbenen T-Shirts getragen haben. Frage an die mitlesenden Eltern: Gibt es die zufällig noch in irgendwelchen Schubladen? Ich wollte dieses Jahr ein neues Shirt kaufen, es gab aber nichts im Wanderpalformat. Der Rysy jedenfalls hatte sich in meinem Kopf als großes Abenteuer und tolle Wanderung festgesetzt. Trotzdem hat es dann fast 20 Jahre gedauert, bis ich wieder an seinem Fuß stand.

Ich weiß nicht mehr – oder ich will es lieber nicht mehr wissen – was Anja und mich vor vier Jahren, in unserem ersten gemeinsamen Slowakeiurlaub dazu geritten hat, die Sache so lax anzugehen. Wahrscheinlich habe ich mir gedacht, was ich als zehnjähriger geschafft habe, schaffe ich mit Ende 20 locker und leicht. Und vielleicht wäre das auch so gewesen, wenn wir zu einer anderen Jahreszeit vor Ort gewesen wären. Denn es war damals Ende Juni und wie wir dann lernen mussten, liegt da noch Schnee auf dem Berg. Als wir losgingen, wussten wir das nicht und haben uns entsprechend Zeit fürs Geocaching, die Landschaft und sogar die Souvenirbuden genommen.

Das hätten wir besser mal gelassen. Denn als wir in der entsprechenden Höhe plötzlich im Schnee standen, wurde das Fortkommen schwierig, anstrengend und sehr langsam. Ich hatte damals nichtmal vernünftig wasserfeste Wanderschuhe. Wir haben uns trotzdem den Berg hoch gekämpft und – nächster Fehler – in der Hütte auf 2.250 Metern Höhe angekommen, sogar noch ein Bier getrunken, bevor es weiter zum Gipfel gehen sollte. Den haben wir dann auf Grund der fortgeschrittenen Zeit, schwindender Kräfte und des ausstehenden – nicht gerade ungefährlichen – Rückweges nicht erreicht. Bereut haben wir das damals nur kurz, trotzdem hatten wir mit dem Berg noch eine Rechnung offen – und die wird jetzt beglichen.

Effektiv und mit eiserner Disziplin haben wir uns noch am Abend vor der Wanderung die beliebt pappigen Brötchen geschmiert und die Rucksäcke gepackt. Nichts sollte einen frühen Start am nächsten Tag behindern. Und so saßen wir dann tatsächlich um kurz nach 6 Uhr Morgens im Auto und haben uns auf den Weg nach Strbske Pleso gemacht, von wo unsere Route auf den Rysy startet. Tatsächlich haben wir es trotz eines reichlich wirren Parkanweisers, der uns mehrmals umparken ließ, geschafft um 7 Uhr auf der Strecke zu sein. „Wir“ ist in diesem Fall das mittlerweile eingespielte Wandertrio aus Anja, Karo und mir. Lurchi musste leider das Haus hüten und konnte nicht mit.

Nach einer kurzen und verhältnismäßig nicht sehr steilen Steigung verläuft der Weg von Strbske Pleso erstmal relativ eben, dafür aber nach kurzer Zeit wieder auf den geliebten krummen Steinen. Hin und wieder werden wir dafür durch tolle Aussichten entschädigt. Sieht sehr schön aus, wie sich der Frühnebel von den Bäumen hebt und langsam vom Wind davon getragen wird. Noch ist es ungewöhnlich ruhig auf dem Weg, nur selten werden wir von anderen Wanderern überholt. Ich wundere mich erst etwas, merke aber dann an unserem Zwischenziel – dem sehr hübschen See Popradske Pleso – dass offensichtlich viele Wanderer eine andere Route genommen haben. Denn ab jetzt ist der Weg voll, sehr voll.

Wir werden überholt, überholen aber tatsächlich auch mal selbst andere Wanderer. Was hier übrigens so einfach klingt, ist in der Realität leider sehr viel komplizierter. Denn der Weg ist ja schmal und der Wanderer an sich offenbar ziemlich scheu allen Fremden gegenüber. Dass da vermutlich jemand hinter einem ist, der gerne überholen möchte, merkt man entweder daran, dass sich direkt vorbeigequetscht wird oder aber – viel beliebter – dass einem quasi in den Nacken geatmet wird. Kurz denke ich darüber nach, mir ein Schild auf den Rucksack zu schnallen: „Wer überholen will, bitte das Zauberwort `Entschuldigung` benutzen“, scheitere aber an der Übersetzung und habe ja auch gar kein Schild dabei.

Bei unserer ersten größeren Rast gibt es dann endlich Frühstück. Ich lief schon ein bisschen auf Notstrom, denn früh morgens in Kezmarok gab es aus Zeitgründen nur Kaffee und ein winziges Marmeladenbrot für mich. Gut gestärkt ging es dann weiter, jetzt immer steiler bergan. Nach kurzer Zeit zieht Karo das Tempo an und verabschiedet sich von uns. Kein Problem, wir hatten das vorher so besprochen, jeder läuft sein Tempo und über Funkgeräte bleiben wir in Kontakt. In nicht enden wollenden Serpentinen geht es bergan, wir verfallen in einen langsamen Schritt, liegen aber gut in der Zeit und sparen so vielleicht Kräfte für die schwierigen Abschnitte, die noch vor uns liegen.

Als wir die Baumgrenze hinter uns lassen, stehen wir am Rande einer kleinen Ebene mit zwei Seen. Vor vier Jahren begann ab hier der Weg durch den Schnee. Wenn ich mir das heute angucke, habe ich keinen blassen Schimmer, wie wir es damals im Schnee überhaupt noch weiter geschafft haben. Wo wir uns dieses Jahr über viele Serpentinen weiter bergauf vorarbeiten, sind wir damals an einem herunterhängenden Seil quasi senkrecht hoch durch ein Schneefeld gestapft. Auch die sich anschließenden Kletterstellen wurden durch Stege und noch mehr Ketten in der Zwischenzeit etwas entschärft.

So haben wir es unversehrt bis zur Hütte geschafft, diesmal auf das Bier verzichtet, nur kurz einen Apfel gegessen und uns dann auf den weiteren Weg zum Gipfel gemacht. Angeblich sind es von hier noch 45 Minuten, ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber die angegebenen Zeiten stimmen für uns ohnehin nie. Hinter der Hütte geht es weiter steil bergan, auch hier aber noch über einen Weg, wo wir uns damals durch Schnee gekämpft haben. Über einen Grat gelangen wir dann auf die letzte Etappe zum Gipfel.

Der Weg verliert sich jetzt ein bisschen und die Touristenmassen verteilen sich quer im Geröll. Irgendwo in diesem Gewühle treffen wir Karo, die eigentlich am Gipfel auf uns warten wollte, dort vor lauter Menschenmassen aber verständlicherweise irgenwann die Flucht angetreten hat. Über ziemlich ausgesetzte Felsen, die nur noch entfernt Ähnlichkeit mit einem Wanderweg haben, erreichen wir dann um Punkt 13 Uhr den Gipfel. Ich wollte spätestens um 14 Uhr hier oben sein, insofern: Punktlandung.

Hier oben befindet sich die Grenze der Slowakei zu Polen. Die polnische Seite fällt mehrere hundert Meter steil ab. Anja wagt einen kurzen Blick über die Kante, sieht aber nur Nebel. Aussicht gibt es heute leider nur Richtung Slowakei. Wir sitzen dann eine Weile auf etwas unbequemen Steinen, staunen über offensichtlich völlig angstfreie Wanderer, die sich dem Abgrund abenteurlich weit und unvorsichtig nähern und überlegen, wie wir hier wieder runterkommen sollen.

Gerade habe ich gelesen, dass der Weg zum Rysy eine T3 auf der bis T6 reichenden schweizer SAC-Berg- und Alpinwanderskala hat. Das bedeutet „anspruchsvolles Bergwandern“ mit einem nicht durchgehend sichtbaren Weg (Check!), ausgesetzten Stellen, die mit Seilen und Ketten gesichert sind (Check!), exponierten Stellen mit Absturzgefahr (Check!) und dass man die Hände fürs Gleichgewicht braucht (Doppelcheck!). Da wir aber die geforderte gute Trittsicherheit haben und über entsprechendes Schuhwerk verfügen, wird der Abstieg zu einem überaus eleganten Unterfangen, in dem außer den Köpfen wahrscheinlich jeder Körperteil mal in irgendeiner Form Kontakt zum Fels gefunden hat.

Zurück an der Hütte scheitere ich wie bereits berichtet daran, mir ein kitschiges T-Shirt als Souvenir zu kaufen. Ersatzweise gibt es eiskalte Kofola, die mir entgegen der Gewohnheit überraschend gut schmeckt. Nachdem Anja nach ewigem Schlangestehen das offensichtlich hochgradig spektakuläre Plumpsklo aufgesucht hat, machen wir uns dann auf den Abstieg. Wir haben zwischenzeitlich den Funkkontakt zu Karo verloren, aber sicher wartet sie schon irgendwo.

Der Abstieg an sich verläuft dann relativ unspektakulär. Mit dem guten Gefühl auf dem Gipfel gewesen zu sein, machen mir auch die immernoch nervig überholenden Wanderer kaum noch etwas aus. Naja, vielleicht doch, aber irgendwann stumpft man etwas ab. Plötzlich knarzt dann das Funkgerät und Karo fragt, ob wir am Popradske Pleso noch gemeinsam ein Bier trinken möchten, bevor es auf die letzte Etappe zum Auto geht. Klares Ja!

Der Weg zum Bier zieht sich dann aber wiedermal überraschend lang. Dafür schmeckt es umso besser, als wir uns mit müden Knochen und wehen Knien am See niederlassen. Die letzten paar Kilometer bis zum Auto vergehen dann wie im Fluge und als wir wieder asphaltierten Boden unter den Füßen haben, ist es kurz nach 19 Uhr. Wir waren also ziemlich genau 12 Stunden unterwegs. Karos GPS-Gerät hat 3.200 Höhenmeter Auf- und Abstieg und etwa 18 Kilometer Strecke gemessen.

Ziemlich ermattet kommen wir nach einer ruhigen Autofahrt wieder in Kezmarok an, wo uns Lurchi mit einem leckeren Abendessen begrüßt, bevor wir früh, müde und glücklich ins Bett fallen. Der Schicksalsberg ist besiegt. Aber nochmal muss ich da jetzt wirklich nicht hoch.

4 Gedanken zu “Am Schicksalsberg

  1. Wieder ein wunderbarer Bericht begleitet mit wieder tollen Fotos; und beruhigend, herauslesen zu können, dass die damaligen Kinder durchaus auch schon mal freiwillig mitgewandert sind und manches in guter Erinnerung geblieben ist.
    Karko, Professor, Internist und Sportmediziner, Bergfan ist heute 91 Jahre alt geworden und immer noch gut zu Fuß. Er kennt nicht nur die Tatra in- und auswendig, sondern auch die Alpen und den Himalaya. Seine Spezialität war, Lehramtskandidaten beizubringen, wie man sich mit Gruppen zu verschiedenen Jahreszeiten im Hochgebirge verhält. Ihm ist vor einigen Jahren für seine Verdienste ums Bergwandern das slowakische Ehrenkreuz verliehen worden. Damals, 1995, hat er sich sehr intensiv um uns gekümmert und die Tatra näher gebracht. Heute könnt Ihr ihn ablösen.
    Ihr habt diesen Berg bezwungen, Gratulation!

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  2. da fällt mir doch gerad ein:
    Ich vermisse die schon mehrfach versprochene Erklärung, wie man es schafft, die Slowakei nicht mit Slowenien zu verwechseln, oder umgekehrt?

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  3. Es wäre eigentlich ganz schön, wenn Du die Anekdötchen von 1995, die Dir so beim Nachdenken einfallen, auch aufschreiben würdest. Mal sehen, was das Langzeitgedächtnis noch so hergibt.

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  4. Großartiger Bericht mit richtig tollen Fotos!
    Gratulation zur Bezwingung des Schicksalsberges!
    Die gewisse, bunt bemalte Örtlichkeit sieht ja sehr abenteuerlich aus. Fällt der Spaß da gleich mal einen Kilometer tiefer? 😉
    Dass ihr überhaupt noch laufen könnt …☺️

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